Betritt man den Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Berlin unweit des Schöneberger „Bermudadreiecks“ und Kreuzberg, beides Hochburgen (auch) der LGBT-Szene, so spürt man eine ganz eigenartig Stimmung. Zwischen den letzten Ruhestätten der Gebrüder Grimm, dem Mediziner Rudolf Virchow, dem Philosophen Wilhelm Scherer und anderer bekannten Persönlichkeiten entdeckt man auch sehr ungewöhnlich – ja: zuweilen skurrile Grabstätten. Dem Berliner Ex-Boxweltmeister Graciano Rocchigiani beispielsweise wurde ein Grab in Form eines Boxringes errichtet. Einige Bereiche sind auch den sog. „Sternenkindern“ gewidmet, eine Ruhe- und Gedenkstätte für Tot- und Fehlgeburten, aber auch für Neugeborene, die schon nach sehr kurzer Zeit verstorben sind. Hier erinnern sehr gute Grabstätten mit Kinderspielzeug, bunten Blumen und Schleifchen an die dort Liegenden.
Geht man aber weiter über den Kirchhof, so entdeckt man an einigten Gräbern Inschriften wie „Starb an AIDS“ oder dem Stein ist ein „Rosa Winkel“ hinzugefügt. Mehrere Grabstätten gehören dem Verein „Denk mal PositHIV“, in der Menschen liegen, die an oder mit HIV starben, ohne Familie sind oder deren Familien sich von ihnen abgewandt haben.
Manche queere Freundeskreise wiederum haben die Patenschaft für historische Gräber übernommen, um zum einen diese zu erhalten und später selbst dort ihre letzte Ruhestätte zu finden. So bleiben Gruppen auch nach ihrem Tode dort vereint.
Rio Reiser liegt heute auf dem Kirchhof, ebenso viele LGBT-Aktivist/innen, viele sind in den 80ern und 90ern an oder mit HIV gestorben. Ihre noch lebenden Wegbegleiter sehen den Friedhof als einen Ort an, ihren viel zu früh verstorbenen Freunden nahe zu sein.
Der Verein Efeu e.V. („Erhalten, Fördern, Entwickeln, Unterstützen“) kümmert sich heute um den historischen und gleichzeitig hochaktuellen Kirchhof. Sie vergeben Grabpatenschaften, recherchieren die Geschichte(n) vieler dort Liegenden und kümmern sich um die Pflege und den Erhalt dieses einzigartigen Ortes.
Wir stießen zum ersten Mal über Martin Reicherts Buch „Aids in der Bundesrepublik“ auf den St.-Matthäus-Kirchhof, trafen nun – nach einer spannenden und ausführlichen Sendung im Februar 2021 zu diesem Thema – den Journalisten (taz) und Buchautoren.
Und wir trafen auf dem Kirchhof Wolfgang Schindler und Ludger Wekenborg alias BeV StroganoV. BeV StroganoV ist – so beschreibt ihn Wikipedia -: „eine Tunte, Modedesigner(in), Entertainer(in), TV-Moderator(in), Schwulen-Aktivistin, Darsteller und Ausstatter mehrerer Kinofilme und bei Theaterproduktionen.“ BeV StroganoV organisierte Benefize für AIDS-Selbsthilfegruppen, ein Hospiz und war 10mal Co-Produzent des alljährlichen queren Teddy Awards bei der Berlinale.
Beide engagieren sich seit langer Zeit für den Verein und damit den Kirchhof, kennen Viele der dort Bestatteten noch persönlich, wissen von deren Geschichte(n), recherchierten die Historie dieses besonderen Ortes und haben uns daher sehr viel zu erzählen!
Und sie öffneten uns sogar das eine oder andere Mausoleum und eine alte Gruft.
In unserem VOR-ORT-REPORT unternehmen wir eine (Zeit)Reise, sprechen über bekannte und unbekannte Persönlichkeiten der Berliner LGBT-Szene. U.a. Rio Reiser, Reinhard von der Marwitz (Café „Anderes Ufer“, in dem einst auch David Bowie oft verweilte), die „Polit- und Kabarett-Tunte“ Ovo Maltine, dem Fotografen Jürgen Baldiga und vielen anderen.
An einige der viel zu früh Verstorbenen möchten wir in der Sendung erinnern.
Überarbeitete Wiederholung von 2021.
Mit: Hartmut, Alex und Dieter
Danke an Marc für die Unterstützung!